Wednesday, March 6, 2024

DU und Dein Schulkind (Költze u. De Donato, 2023) - Rezension von Dr. Luisa Damato, Schulleiterin

 DU und Dein Schulkind

Die unbequeme Wahrheit über Schule

 

von Horst Költze und Maria Teresa De Donato

 

Rezension von Dr. Luisa Damato, Schulleiterin



 

Die Analyse des internationalen Bildungssystems unserer Zeit steht im Mittelpunkt der Studien, die der im heutigen Polen geborene Horst Költze, Theologe, Philosoph, Pädagoge, Psychologe und Lehrer seit Mitte des letzten Jahrhunderts, seit Jahren betreibt.

Er hat 2023 zusammen mit Maria Teresa de Donato, Lehrerin, Journalistin und Romanautorin, Italienerin, aber in die USA ausgewandert, das Buch "Tu e il tuo alunno - Tutta la verità sulla scuola" („DU und dein Schulkind  -die unbequeme Wahrheit über Schule“-) veröffentlicht.

Der erste Teil "Die Schule auf die Füße stellen" wird im zweiten Teil mit dem Titel "Bildung und Freiheit" bestätigt, wo wir von den Antworten fasziniert sind, die Költze in einem von De Donato geführten Interview gibt.

Daniel Pennac formulierte es so: "Ich würde sagen, dass der Schlüssel zum Lesen das Wort LIEBE ist".

Und es ist kein Zufall, dass ich mir die Freiheit genommen habe, das Wort "Liebe" in Großbuchstaben zu schreiben, denn das ganze Buch ist von der Aura einer tiefen Liebe zur Schule durchdrungen, die nicht als Apparat, sondern als Bildungsgemeinschaft verstanden wird, in der alle Protagonisten aufgerufen sind, miteinander zu interagieren.

Schon die Widmung gibt Anlass zum Nachdenken über die überragende Absicht der Autoren:

"Gewidmet allen Schülerinnen und Schülern dieser schönen Erde und ihren Eltern".

Das Adjektiv der Superlative suggeriert uns eine positive Vision, die wir bei der Lektüre nie aus den Augen verlieren dürfen, die uns andererseits schon in der „Begrüßung“ das Bild eines "unmenschlichen und krankmachenden Bildungssystems" vermittelt.

Die Autoren sind von einem Geist des Protests beseelt und von der Hoffnung auf eine Transformation der Schule, wobei sie jedoch eine friedliche Bildungsrevolution vorschlagen, die nur stattfinden wird, wenn der ökonomistische Geist, der das Bildungssystem derzeit beherrscht, überwunden wird.

Die Autoren prangern die OECD und die Bildungsminister ihrer Mitgliedsländer an, die sie als Handlanger der OECD bezeichnen, weil sie die Bildung als Maschinerie betrachten, das intellektuelle Kapital der Schüler als reales Kapital, als „Rohmaterial“, das von zwei Bildungsprinzipien, nämlich Konkurrenz und Effizienz, geschmiedet werden muss.

Die Schüler müssen Ergebnisse liefern, deren Qualität anhand von Benchmarks gemessen wird, die von der OECD willkürlich festgelegt werden.

Die Schule ist kein "sicherer Hafen" mehr, wie uns die Geschichte lehrt, sondern ein Ort, an dem ständiger Wettbewerb stattfindet, bei dem nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer standardisierte Lernprodukte liefern müssen. Sie sind Sklaven, sie sind humanoide Roboter.

Aber was ist mit der menschlichen Bildung und der menschlichen Freiheit?

Die OECD hat vor, sie zu vernichten. Sie will das Bild des Menschen als freies Wesen bewusst ignorieren.

Stattdessen muss der Begriff der Freiheit der Ausgangspunkt für eine friedliche Bildungsrevolution sein.

Die Freiheit ermöglicht es dem Menschen, in seinem SELBST zu entscheiden, wie er handelt, für seine Handlungen verantwortlich zu sein, denn dort findet die Selbstregulation statt, jene Fähigkeit, die bei der jungen Generation gefördert werden sollte. Die Schüler würden in Freiheit und Selbstregulation das Beste aus ihrem Potenzial machen, angetrieben durch ihr angeborenes Lerninteresse und durch ein Bildungssystem, das darauf abzielt, eben dieses Potenzial zu fördern.

Dieser Bildungsprozess würde die fortwährende Entwicklung der Menschheit, ja mehr noch, das Überleben der Menschheit sichern.

Die junge Generation würde lernen zu SEIN. Das viel gepriesene Konzept der "Kompetenz", das seit Jahren in den Kreisen der schulischen Entscheidungsträger diskutiert wird, sollte der Ausgangspunkt sein, als „SELBST-Kompetenz“ der Endpunkt der Bildung der Menschheit. SELBST-Kompetenz ist das Wissen vom eigenen SEIN, wie man i s t, das durch den Erwerb von Wissen (Können) und Fertigkeiten (Know-how) erreicht wird; aber dieser Prozess muss immer in völliger Freiheit stattfinden. Erzwungenes Lernen, aufgezwungenes Wissen verhindert das Bewusstsein für das eigene "SELBST". Die Schule wird zu einem Gefängnis, in dem sogar die Lehrer verpflichtet sind, bestimmte Inhalte zu bestimmten Zeiten zu vermitteln und dann die Lernprodukte der Schüler zu bewerten.

Und genau hier bestehen die Autoren auf einer anthropologisch orientierten Ausrichtung der Lehrerbildung.

In Anlehnung an den Philosophen Kierkegaard favorisieren sie Lehrer:Innen, die sich ihres SELBST, ihrer eigenen Gefühle, ihrer Auswirkungen auf die Schüler, des Sinns und ihrer eigenen Freiheit voll bewusst sind. Nur eine solche Professionalität kann eine echte Transformation der Schule garantieren, deren Motto nach Ansicht der Autoren "für freie Schüler in einer freien Gesellschaft" lauten könnte.

Die sokratische Lehrmethode wird neu bewertet, die den Schüler als jemanden sieht, der sein höchstes Potenzial mit seinem angeborenen Lerninteresse ausschöpft, der nicht durch Belohnungen oder Bestrafungen konditioniert wird, der nicht Schularbeiter ist, der Produkte für die Arbeitswelt und den Wirtschaftsprozess herstellen muss.

Das heutige ökonomistische Bildungssystem, so Költze, führe bei Lehrern zu Burn-out, bei Eltern zu Verzweiflung und bei Schülern zu pathologischen Folgen wie Stress und Schulabbruch.

Die Lösung für diese Unsicherheiten liegt in der Schaffung eines Bildungssystems, das über die totale Standardisierung hinausgeht und die weiblichen Prinzipien der Kooperation, Empathie, Phantasie, Kreativität aufwertet, die das männliche Potential ergänzen. Eine Bildungsgemeinschaft, in der die "Bildungsrevolutionäre" aufgerufen sind, im Teamgeist zu agieren.

Das Endziel ist die Förderung einer humanen, integrativen Bildung, die die Freiheit, sich selbst zu bestimmen, respektiert:

eine Schule, die nicht belehrt, sondern umfassend bildet.

Die Autoren empfehlen, nicht den Glauben zu verlieren, dass die Schule wieder auf die Beine kommen wird. Wenn auch noch nicht häufig, so sind doch bereits erste Ansätze einer Wiederbelebung zu verzeichnen: Lehrer, die aus Protest kündigen, weil sie nicht für das Versagen des Bildungssystems verantwortlich sein wollen, stehen Lehrern gegenüber, die einen motivierenden Unterricht auf der Grundlage der Selbstregulation eingeführt haben. Diesen geht es nicht mehr um die Bewertung von Verstandesbegriffen, sondern um einen empathischen und konstruktiven Ansatz, der bei den Schülern Vertrauen in ihre Fähigkeiten weckt.

Ich möchte den Autoren dafür danken, dass sie mir die Möglichkeit gegeben haben, innezuhalten und über die Grundlagen der Welt der Bildung nachzudenken, der ich mein ganzes Arbeitsleben gewidmet habe.

Die Lesemethode, die ich für das Verständnis des Textes am förderlichsten fand und die ich völlig unbewusst angewandt habe, bestand darin, bestimmte Passagen immer wieder zu lesen, obwohl sie in einer syntaktisch verständlichen Sprache verfasst sind, weil ich sie als dicht und vieldeutig empfand, aber dennoch immer kommunizierend.

Es ist eine Publikation, die tausend Szenarien eröffnet und sich für tausend Interpretationen eignet: Sie hinterlässt starke Eindrücke, wenn man sie als Lehrer liest; sie vermittelt begründete Ängste, wenn man sie als Elternteil liest; sie verbreitet Bewusstsein, wenn man sie als Schüler liest; sie lädt zum Handeln ein, wenn man sie als Manager liest. Die Autoren schreiben in der Begrüßung: "Wenn Sie einmal angefangen haben zu lesen, werden Sie nicht mehr aufhören".

Und wenn wir an den Punkt zurückkehren, an dem wir unsere Analyse begonnen haben, sind wir noch mehr davon überzeugt, dass der Schlüssel zum Lesen immer das Wort "LIEBE" bleibt: Wenn eine Welt sich selbst liebt, will sie die Wahrheit über sich selbst erfahren.