Sibirische Erziehung von Nicolai Lilin
Rezension von Maria Teresa De Donato
Diese Memoiren von Nicolai Lilin sind gewalttätig, gnadenlos, manchmal
obszön und sogar traumatisch und sicherlich nicht jedermanns Sache. Doch trotz
der Grobheit der Geschichten ist die Erzählung flüssig, angenehm, tiefgründig,
voller Bedeutung und Lebensweisheiten und, in mancher Hinsicht paradoxerweise,
gleichermaßen faszinierend.
Wer eine dualistische Sichtweise vertritt und die Welt und damit das Ganze
in schön oder hässlich, gut oder schlecht, richtig oder falsch einteilt, muss
seine Position überdenken oder zumindest erkennen, dass die Realität nicht
unbedingt schwarz oder weiß, sondern auch grau oder sogar voller Farben und
Schattierungen sein könnte.
Diese Elemente können akzeptiert oder nicht akzeptiert werden, aber sie
verdienen eine Analyse, auch wenn wir sie nicht vollständig verstehen können,
weil sie möglicherweise nicht Teil unserer Erfahrung, unseres Glaubenssystems
oder sogar unserer Bewertungsmaßstäbe sind.
Das Thema Kriminalität wird ausführlich beschrieben und seine Wurzeln sowie
die Art und Weise, wie es von den verschiedenen Clans wahrgenommen und erlebt
wird, werden meisterhaft untersucht und erklärt. Kriminelle Organisationen hat
es schon immer gegeben und wird es vielleicht, aber leider, auch immer geben.
Allerdings sind ihre Matrizen, die Grundlagen, auf denen sie beruhen, und die
Verhaltensmodalitäten ihrer Mitglieder nicht dieselben, sondern je nach Gruppe
unterschiedlich, einzigartig und spezifisch.
Dies ist der Fall bei der sibirischen Erziehung, die man erhält. Eine
Erziehung, die in diesem Buch zwar immer noch mit Kriminalität in Verbindung
gebracht wird, sich aber durch einen strengen ethischen und moralischen Kodex
auszeichnet, der sie von allen anderen Organisationen unterscheidet:
Einfachheit und Bescheidenheit im Verhalten, tiefer Respekt für die eigene
kulturelle Identität, für den eigenen religiösen Glauben, für die (kriminelle)
Autorität, für die Alten, Eltern, Frauen, Kinder und deren daraus
resultierenden Schutz und Vormundschaft für die gesamte Gemeinschaft. Zu diesem
letzten Aspekt gehört die Betreuung der Familien von Mitgliedern, die von
anderen Clans getötet, zum Tode oder zu lebenslanger Haft verurteilt oder
anderweitig inhaftiert wurden.
Das Ritual der Tätowierungen mit der Spezifität der Inhalte, die jede
einzelne von ihnen darstellt, ist ein Aspekt, den ich besonders faszinierend
fand, eine wahre Ode an die Identität und den kulturellen und spirituellen
Reichtum eines Volkes, genauer gesagt des sibirischen, das sich seiner eigenen
Geschichte, seiner eigenen Sitten, Gebräuche und alten Traditionen voll bewusst
und ausgesprochen stolz darauf ist.
Das unerwartete und manchmal sogar humorvolle Ende des Buches hinterlässt
beim Leser das Gefühl einer tiefgreifenden Veränderung im Leben des Autors und
einer Erkenntnis, die ihn anschließend dazu bringt, sich für eine Kehrtwende in
seinem eigenen Leben zu entscheiden und dabei das Erbe, das er geerbt hat und
das nicht mehr „kriminell“, sondern vielmehr kulturell, spirituell, ethisch und
moralisch ist, zu respektieren und zu schützen.