Bildung und Freiheit (Teil 1)
Im
Gespräch mit
dem Institutsdirektor und
Bildungsschriftsteller Horst Költze
von
Maria Teresa De Donato
Heute
habe ich die große Ehre, einen ganz besonderen Mann und lieben Freund zu Gast
zu haben, den Institutsdirektor und
Bildungsschriftsteller Horst Költze, dessen Privat- und Berufsleben voller
ebenso faszinierender wie beunruhigender Aspekte ist.
Über
seine Aktivitäten und Veröffentlichungen gibt es viel zu sagen, aber ich lasse
es – wie es bei mir üblich ist – meinen Gast tun.
MTDD:
Horst, vielen Dank, dass Du dieses Interview angenommen hast und heute hier bei
uns bist.
HK: Maria Teresa, ich
danke Dir für Deine Einladung und besonders, dass Du an der globalen
Bildungs-Botschaft interessiert bist.
Du
hast die globale Bedeutung der Bildungs-Botschaft meiner Schriften erkannt, die
ich aus der Quelle der Intuition für “die Kinder des neuen Jahrtausends” zu
vermitteln habe.
Mit
Deinem Interview eröffnest Du einen weltweiten Wirkungsraum. Dafür danke ich Dir
im Namen der Kinder.
MTDD: Gerne.
Horst, Du wurdest 1932 in Köslin in Pommern geboren, das seit dem Ende des
zweiten Weltkrieges zu Polen gehört. Hier wohntest Du bis 1945, als Du vor dem Einmarsch der Roten Armen nach
Uetersen, einer Stadt nordwestlich von Hamburg, flohst.
Welche
Erinnerungen hast Du an diese Jahre und diese Ereignisse?
HK:
Als zwölfjähriger Junge hatte ich kein Bewusstsein von der schicksalhaften
Wirkung dieses Ereignisses, als meine Mutter mit uns sieben Kindern am Abend des
1. März 1945 in der Dunkelheit drei Kilometer weit zum Bahnhof eilten. Ich ging
mit, wie Kinder mitgehen. Als wir nach sechs Tagen Bahnfahrt in Uetersen angekommen waren, war meine Seele noch immer
unterwegs, irgendwo im Nirgendwo.
MTDD:
Wie und in welchem Ausmaß haben diese Ereignisse Dein Leben, Deine Karriere
und Deine Veröffentlichungen beeinflusst?
HK:
Die Erfahrung, als Flüchtling geduldet zu sein, ohne wirkliches Zuhause, nur
das Lebensnotwendige zu essen und anzuziehen zu haben, hat meine
Grundeinstellung zum Leben geprägt: ich bin von Grund auf dankbar für das, was
das Leben mir schenkt, für alles, was ich tun und schaffen darf.
Trotz
aller schmerzhaften Erfahrung haben diese Ereignisse dazu beigetragen, von der
Sinnhaftigkeit des DA-SEINS überzeugt zu sein. Diese Überzeugung formuliert der
dänische Existenzphilosoph Sören Kierkegaard so: “Das Leben wird vorwärts
gelebt und rückwärts verstanden.„
MTDD:
Beim Lesen Deines Lebenslaufs, vor allem im Bereich der Bildung entstehen
unzählige akademische und nicht-akademische Themen und Rollen, vom Lehrer zum
Rektor, vom Rektor zum Dozenten, Supervisor und Institutsdirektor.
Möchtest
Du Deine Aktivitäten in diesem Bereich zusammenfassen?
HK:
In all meinen unterschiedlichen Tätigkeiten, Funktionen, Rollen und Aufgaben,
stand der Mensch im Mittelpunkt meines Denkens und Handelns.
MTDD:
In Deiner Selbstdarstellung lesen wir: “Wer ich bin. ICH SELBST! Das
war ich schon immer.„
Wie
wichtig ist es, zu verstehen, wer wir sind, und unser Leben in vollem
Bewusstsein und in Harmonie mit unseren Werten zu leben?
HK:
Die Antwort des Menschen auf diese Grundfrage seiner Existenz, WER er IST,
entscheidet darüber, welches Schicksal er sich selbst bereitet.
Vor
zweieinhalb Jahrtausenden antwortete das Orakel zu Delphi auf die Frage
“Was
ist die vornehmste Aufgabe des Menschen?„:
“ERKENNE
DICH SELBST!„
Das
Selbstbewusstsein, das Bewusstsein vom eigenen SELBST, ist die
Grundbedingung, mit sich selbst in Harmonie zu leben, mit sich selbst
übereinzustimmen, mit sich selbst im inneren Kosmos stimmig zu sein, mit sich
selbst in Frieden zu leben.
Solche
Stimmigkeit mit sich selbst gelingt, wenn der Mensch nach Überzeugungen lebt,
die einen kohärenten Seinszustand bewirken. Ein kohärenter Seinszustand basiert
auf Leben fördernden Werten. Solche Werte schaffen homöostatische Balance im
Organismus.
Der
Homo sapiens verfügt über die Option, mit der Fähigkeit der SELBST-Regulation
einen solchen organismischen und virtuellen Seinszustand als Co-Kreator in
seinem inneren Kosmos selbst zu erschaffen. Diese ur-menschliche Option
begründet seine Freiheit und seine Würde.
Grundbedingung
ist die Erkenntnis seines wahren SELBST.
MTDD:
Inwieweit greift das vom Bildungssystem auferlegte schulische Wissen in das
Bewusstsein des eigenen Wesens ein und behindert dessen Entwicklung?
HK:
Verordnetes Wissen und Lernen widerspricht der ontischen Konstitution des Menschen, deren Ur-Merkmal Leben in Freiheit ist. Der weltbekannte Dichter Jean Paul Sartre hat für das
angeborene Freiheitsstreben des Menschen klare Worte: “Der Mensch ist zur
Freiheit verurteilt!”
Zur Begründung nenne ich
einige Konkretionen dieser anthropologischen Ur-Konstitution:
Diese
Ur-Konstitution des Menschen ist die
Basis demokratischer Gesellschaft.
Diese
Ur-Konstitution verursacht die Ur-Angst jedes Diktators.
Diese
Ur-Konstitution des Menschen hat den Einsturz der MAUER in Deutschland bewirkt.
Und
diese Ur-Konstitution bewirkt, dass gegenwärtig Millionen chinesischer
Millennials sich vom System verabschieden. Sie leben im Zustand des “Tangping„.
“Tangping bedeutet, sich nicht zum Werkzeug anderer zu machen. Seinen
eigenen Weg zu gehen, in Würde. Auch wenn man damit zum Außenseiter wird und mit
weniger Geld auskommen muß„ sagt der junge Chinese, den XIFAN
YANG in ihrem Artikel “Revolte im Liegen„ in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 13.
April 2022 Yao Feng nennt. XIFAN YANG stellt fest: “Die Jungen machen nicht
mehr mit. Sie ziehen sich zurück, steigen aus, sie verabschieden sich vom Wir
und wenden sich dem Ich zu.„
Im
traditionellen Schulsystem, das gegenwärtig in 76 Staaten von der
funktionalistischen PISA-Studie [Programme for International Student Assessment] dominiert
wird, werden Kinder und Jugendliche während der Wachstumsphase ihres Gehirns
mindestens zehn Jahre lang auf Anpassung konditioniert. Das Hirn-Areal im
frontalen Cortex zur Regulation des SELBST wird durch Zwangslernen
an voller Entfaltung behindert. Beim Zwangslernen fehlt der existentielle Bezug
zur Person, zum wahren SELBST. Dadurch wird die Entwicklung von Hirnarealen
behindert, die für die Selbst-Genese gebraucht werden.
Am
Ende der Schulzeit wissen die Absolventinnen/Absolventen nicht, WER SIE SIND
und was sie selbst eigentlich wollen.
MTDD:
In Deiner Homepage offenbarst Du:
“Schulwissen
verstopfte mein System und lief über mein Herz. Fast wäre ich darin
ertrunken.”
Kannst
Du dieses Konzept ausarbeiten?
HK:
Ich war stundenlang auf einen Schulstuhl “gefesselt”, musste hören, was die
Lehrerin/der Lehrer in meinen Kopf bringen wollte. Was in meiner Innenwelt
vorging, interessierte nicht. Es ging nur um den Lernstoff.
Lehrerinnen/Lehrer
sind verpflichtet, die verordneten Lerninhalte in einer vorgeplanten Zeit zu vermitteln
und sie sind verpflichtet, die Lernprodukte der SchülerInnen
zu zensieren. Zensuren motivieren und konditionieren SchülerInnen ähnlich wie
Ratten in der Skinner-Box. Erwartete Lernprodukte
werden mit guten Noten belohnt, mangelhafte Lernprodukte werden mit
schlechten Noten bestraft.
Mein
Herz war von Angst getrieben, gute Noten zu erreichen, um in die nächste
Klassenstufe versetzt zu werden. Meine Rettung war, dass ich das “Schulgefängnis”
verließ und eine Lehre begann.
MTDD:
Lass uns mit der Betrachtung einiger Deiner Veröffentlichungen beginnen.
Die
ersten waren
-
Anthropologisch orientierte Lehrerbildung. (1981);
-
Lehrertraining -
Theorie und Praxis verschiedener Modelle (Hrsg.). (1990);
-
Lehrerbildung im Wandel – vom technokratischen zum humanen
Ausbildungskonzept,
In: Ruth C. Cohn / Christina Terfurth
(Hrsg.), Living Teaching- TCI for Schools
(1993),
-
Das Pädagogische Tagebuch – ein Schritt zu selbstverantworteter Ausbildung.
In:
Almut/Hoppe/Heike Hoßfeld (Hrsg.),
Bewerten
als Prozess. Dialog zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung.
(2001)
Die
ersten drei Titel unterstreichen die Bedeutung einer anthropologisch
orientierten LehrerInnenausbildung.
Kannst
Du, bitte, die anthropologische Ausrichtung, die Theorie verschiedener Modelle
des Lehrertrainings und den Übergang von einer ‘technokratischen’ zu einer
‘menschlichen’ Erziehung beschreiben?
HK:
Ich beginne mit einer fundamentalen Erkenntnis des Existenzphilosophen Sören
Kierkegaard:
“Der
Mensch denkt in anderen Kategorien als in denen er existiert.„
Diese
beiden Seinsweisen, Denken und Existieren, bilden das bipolare Spannungsfeld
der Einheit Mensch. Beide Seinsweisen integriert der Mensch operational im
Handlungsakt.
LehrerInnen-Dasein
vollzieht sich im Unterricht als Life-Sendung in jeder Minute, in der Denken in
Handlung konkretisiert wird.
Pädagogisch
professionelle Aktionen erfordern einen hohen Bewusstheitsgrad von sich selbst
und von der Wirkung auf Schülerinnen und Schüler.
Pädagogische
Professionalität wird nur entwickelt, wenn LehrerInnenbildung beide
Seinsweisen, die Kategorie des DENKENS und die Kategorie der AKTION, im Prozess
des Lehrertrainings integriert.
Basis
eines solchen anthropologisch orientierten Professionalisierungsprozesses ist
das ontisch legitimierte Menschenbild, in dem der Mensch als SELBST verstanden
wird. Im Lehrertraining wird durch Selbst-Konfrontation das Bewusstsein vom
wahren SELBST prozesshaft zur bewussten Re-repräsentation entwickelt.
Re-repräsentation des SELBST ist die
Grundbedingung menschlicher Bildung.
MTDD:
Inwieweit wirkt sich die Bewertung durch Dritte auf
unser Selbstwertgefühl aus und was kann dagegen getan werden?
HK:
Das Ausmaß der Bewertung durch Dritte auf unser Selbstwertgefühl ist davon
abhängig, wie ausgeprägt unser Bewusstsein vom eigenen, wahren SELBST ist. Ist
das Bewusstsein vom eigenen SELBST unterentwickelt, entsteht im inneren Kosmos
ein virtuelles Vakuum. In diesem Vakuum herrschen dann dominante Bezugspersonen
und autoritäre Systeme.
Was
kann dagegen getan werden?
Sobald
das Kind ICH sagt, kann es sich von sich selbst distanzieren und ist zur
SELBST-Konfrontation fähig. Das bedeutet, es in entsprechenden Situationen mit
sich selbst zu konfrontieren und seine Freiheit zur eigenen Entscheidung zu
fördern, in Verantwortung vor seinem SELBST und vor seinen Mitmenschen.
Die
anthropologische Begründung der Entscheidungsfreiheit liegt in der
Ur-Konstitution des Menschen. Jeder Mensch ist mit der Option ausgestattet, vor
einer Reaktion inne halten zu können. Der Begründer der Logotherapie, Victor E.
Frankl, hat erkannt:
“Zwischen
Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und
die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum
und unsere Freiheit.„
Diese
Option zum Innehalten ist die Grundbedingung der SELBST-Regulation.
SELBST-Regulation gelingt, sobald der Mensch für sich selbst einen autonomen
Wertmaßstab entwickelt hat. Dann ist er unabhängig von der Bewertung durch
Dritte.
MTDD:
Wie werden Leser, die am Kauf Deiner Publikationen interessiert sind, dies tun?
HK:
Meine Bücher können in jeder Buchhandlung vor Ort gekauft bzw. auch über
Internet-Buchhandlungen bestellt werden.
Meine
Essays, wie z. B. “Der Evolutionsgeist transformiert das Bildungs-Bewusstsein„,
kann übers Internet kostenlos herunter geladen werden.
MTDD:
Horst, Deine Publikationen sind zahlreich und die zu behandelnden Themen ebenso
interessant wie tiefgründig. Dieses spannende Gespräch über die Welt des
Lehrens und Lernens können wir in unserem nächsten Interview fortsetzen.
Nochmals
vielen Dank für die Teilnahme. Es war mir eine Ehre, Dich als meinen Gast zu
haben.
HK:
Maria Teresa, vielen Dank für Deine Einladung zu diesem Interview.