Wednesday, June 8, 2022

Bildung und Freiheit (Teil 1) - Im Gespräch mit dem Institutsdirektor und Bildungsschriftsteller Horst Költze - von Maria Teresa De Donato

 Bildung und Freiheit (Teil 1)

Im Gespräch mit

dem Institutsdirektor und Bildungsschriftsteller Horst Költze

von Maria Teresa De Donato





Heute habe ich die große Ehre, einen ganz besonderen Mann und lieben Freund zu Gast zu haben, den Institutsdirektor und Bildungsschriftsteller Horst Költze, dessen Privat- und Berufsleben voller ebenso faszinierender wie beunruhigender Aspekte ist.

Über seine Aktivitäten und Veröffentlichungen gibt es viel zu sagen, aber ich lasse es – wie es bei mir üblich ist – meinen Gast tun.

 

MTDD: Horst, vielen Dank, dass Du dieses Interview angenommen hast und heute hier bei uns bist.

HK: Maria Teresa, ich danke Dir für Deine Einladung und besonders, dass Du an der globalen Bildungs-Botschaft interessiert bist.

Du hast die globale Bedeutung der Bildungs-Botschaft meiner Schriften erkannt, die ich aus der Quelle der Intuition für “die Kinder des neuen Jahrtausends” zu vermitteln habe.

Mit Deinem Interview eröffnest Du einen weltweiten Wirkungsraum. Dafür danke ich Dir im Namen der Kinder.

 

MTDD: Gerne. Horst, Du wurdest 1932 in Köslin in Pommern geboren, das seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zu Polen gehört. Hier wohntest Du bis 1945, als Du vor dem Einmarsch der Roten Armen nach Uetersen, einer Stadt nordwestlich von Hamburg, flohst.

Welche Erinnerungen hast Du an diese Jahre und diese Ereignisse?

HK: Als zwölfjähriger Junge hatte ich kein Bewusstsein von der schicksalhaften Wirkung dieses Ereignisses, als meine Mutter mit uns sieben Kindern am Abend des 1. März 1945 in der Dunkelheit drei Kilometer weit zum Bahnhof eilten. Ich ging mit, wie Kinder mitgehen. Als wir nach sechs Tagen Bahnfahrt in Uetersen  angekommen waren, war meine Seele noch immer unterwegs, irgendwo im Nirgendwo.

 

MTDD: Wie und in welchem ​​Ausmaß haben diese Ereignisse Dein Leben, Deine Karriere und Deine Veröffentlichungen beeinflusst?

HK: Die Erfahrung, als Flüchtling geduldet zu sein, ohne wirkliches Zuhause, nur das Lebensnotwendige zu essen und anzuziehen zu haben, hat meine Grundeinstellung zum Leben geprägt: ich bin von Grund auf dankbar für das, was das Leben mir schenkt, für alles, was ich tun und schaffen darf.

Trotz aller schmerzhaften Erfahrung haben diese Ereignisse dazu beigetragen, von der Sinnhaftigkeit des DA-SEINS überzeugt zu sein. Diese Überzeugung formuliert der dänische Existenzphilosoph Sören Kierkegaard so: “Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.„

 

MTDD: Beim Lesen Deines Lebenslaufs, vor allem im Bereich der Bildung entstehen unzählige akademische und nicht-akademische Themen und Rollen, vom Lehrer zum Rektor, vom Rektor zum Dozenten, Supervisor und Institutsdirektor.

Möchtest Du Deine Aktivitäten in diesem Bereich zusammenfassen?

HK: In all meinen unterschiedlichen Tätigkeiten, Funktionen, Rollen und Aufgaben, stand der Mensch im Mittelpunkt meines Denkens und Handelns.

 

MTDD: In Deiner Selbstdarstellung lesen wir: “Wer ich bin. ICH SELBST!  Das war ich schon immer.„

Wie wichtig ist es, zu verstehen, wer wir sind, und unser Leben in vollem Bewusstsein und in Harmonie mit unseren Werten zu leben?

HK: Die Antwort des Menschen auf diese Grundfrage seiner Existenz, WER er IST, entscheidet darüber, welches Schicksal er sich selbst bereitet.

Vor zweieinhalb Jahrtausenden antwortete das Orakel zu Delphi auf die Frage

“Was ist die vornehmste Aufgabe des Menschen?„:

“ERKENNE DICH SELBST!„

 

Das Selbstbewusstsein, das Bewusstsein vom eigenen SELBST, ist die Grundbedingung, mit sich selbst in Harmonie zu leben, mit sich selbst übereinzustimmen, mit sich selbst im inneren Kosmos stimmig zu sein, mit sich selbst in Frieden zu leben.

Solche Stimmigkeit mit sich selbst gelingt, wenn der Mensch nach Überzeugungen lebt, die einen kohärenten Seinszustand bewirken. Ein kohärenter Seinszustand basiert auf Leben fördernden Werten. Solche Werte schaffen homöostatische Balance im Organismus.

Der Homo sapiens verfügt über die Option, mit der Fähigkeit der SELBST-Regulation einen solchen organismischen und virtuellen Seinszustand als Co-Kreator in seinem inneren Kosmos selbst zu erschaffen. Diese ur-menschliche Option begründet seine Freiheit und seine Würde.

Grundbedingung ist die Erkenntnis seines wahren SELBST.

 

MTDD: Inwieweit greift das vom Bildungssystem auferlegte schulische Wissen in das Bewusstsein des eigenen Wesens ein und behindert dessen Entwicklung?

HK: Verordnetes Wissen und Lernen widerspricht der ontischen Konstitution des Menschen, deren Ur-Merkmal Leben in Freiheit ist. Der weltbekannte Dichter Jean Paul Sartre hat für das angeborene Freiheitsstreben des Menschen klare Worte: “Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt!”

Zur Begründung nenne ich einige Konkretionen dieser anthropologischen Ur-Konstitution:

Diese Ur-Konstitution des Menschen ist die Basis demokratischer Gesellschaft.

Diese Ur-Konstitution verursacht die Ur-Angst jedes Diktators.

Diese Ur-Konstitution des Menschen hat den Einsturz der MAUER in Deutschland bewirkt.

 

Und diese Ur-Konstitution bewirkt, dass gegenwärtig Millionen chinesischer Millennials sich vom System verabschieden. Sie leben im Zustand des “Tangping„. “Tangping bedeutet, sich nicht zum Werkzeug anderer zu machen. Seinen eigenen Weg zu gehen, in Würde. Auch wenn man damit zum Außenseiter wird und mit weniger Geld auskommen muß sagt der junge Chinese, den XIFAN YANG in ihrem Artikel “Revolte im Liegen„ in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 13. April 2022 Yao Feng nennt. XIFAN YANG stellt fest: “Die Jungen machen nicht mehr mit. Sie ziehen sich zurück, steigen aus, sie verabschieden sich vom Wir und wenden sich dem Ich zu.„

Im traditionellen Schulsystem, das gegenwärtig in 76 Staaten von der funktionalistischen PISA-Studie [Programme for International Student Assessment] dominiert wird, werden Kinder und Jugendliche während der Wachstumsphase ihres Gehirns mindestens zehn Jahre lang auf Anpassung konditioniert. Das Hirn-Areal im frontalen Cortex zur Regulation des SELBST wird durch Zwangslernen an voller Entfaltung behindert. Beim Zwangslernen fehlt der existentielle Bezug zur Person, zum wahren SELBST. Dadurch wird die Entwicklung von Hirnarealen behindert, die für die Selbst-Genese gebraucht werden.

Am Ende der Schulzeit wissen die Absolventinnen/Absolventen nicht, WER SIE SIND und was sie selbst eigentlich wollen.

 

MTDD: In Deiner Homepage offenbarst Du:

 Schulwissen verstopfte mein System und lief über mein Herz. Fast wäre ich darin ertrunken.

Kannst Du dieses Konzept ausarbeiten?

HK: Ich war stundenlang auf einen Schulstuhl “gefesselt”, musste hören, was die Lehrerin/der Lehrer in meinen Kopf bringen wollte. Was in meiner Innenwelt vorging, interessierte nicht. Es ging nur um den Lernstoff.

Lehrerinnen/Lehrer sind verpflichtet, die verordneten Lerninhalte in einer vorgeplanten Zeit zu vermitteln und sie sind verpflichtet, die Lernprodukte der SchülerInnen zu zensieren. Zensuren motivieren und konditionieren SchülerInnen ähnlich wie Ratten in der Skinner-Box. Erwartete Lernprodukte werden mit guten Noten belohnt, mangelhafte Lernprodukte werden mit schlechten Noten bestraft.

Mein Herz war von Angst getrieben, gute Noten zu erreichen, um in die nächste Klassenstufe versetzt zu werden. Meine Rettung war, dass ich das “Schulgefängnis” verließ und eine Lehre begann.


 



MTDD: Lass uns mit der Betrachtung einiger Deiner Veröffentlichungen beginnen.

Die ersten waren

- Anthropologisch orientierte Lehrerbildung. (1981);

- Lehrertraining - Theorie und Praxis verschiedener Modelle (Hrsg.). (1990);

- Lehrerbildung im Wandel – vom technokratischen zum humanen Ausbildungskonzept,

  In: Ruth C. Cohn / Christina Terfurth (Hrsg.), Living Teaching- TCI for Schools

  (1993),

- Das Pädagogische Tagebuch – ein Schritt zu selbstverantworteter Ausbildung.

      In: Almut/Hoppe/Heike Hoßfeld (Hrsg.),

        Bewerten als Prozess. Dialog zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung. (2001)

 



Die ersten drei Titel unterstreichen die Bedeutung einer anthropologisch orientierten  LehrerInnenausbildung.

Kannst Du, bitte, die anthropologische Ausrichtung, die Theorie verschiedener Modelle des Lehrertrainings und den Übergang von einer ‘technokratischen’ zu einer ‘menschlichen’ Erziehung beschreiben?

HK: Ich beginne mit einer fundamentalen Erkenntnis des Existenzphilosophen Sören Kierkegaard:

“Der Mensch denkt in anderen Kategorien als in denen er existiert.„

 

Diese beiden Seinsweisen, Denken und Existieren, bilden das bipolare Spannungsfeld der Einheit Mensch. Beide Seinsweisen integriert der Mensch operational im Handlungsakt.

LehrerInnen-Dasein vollzieht sich im Unterricht als Life-Sendung in jeder Minute, in der Denken in Handlung konkretisiert wird.

Pädagogisch professionelle Aktionen erfordern einen hohen Bewusstheitsgrad von sich selbst und von der Wirkung auf Schülerinnen und Schüler.

Pädagogische Professionalität wird nur entwickelt, wenn LehrerInnenbildung beide Seinsweisen, die Kategorie des DENKENS und die Kategorie der AKTION, im Prozess des Lehrertrainings integriert.

Basis eines solchen anthropologisch orientierten Professionalisierungsprozesses ist das ontisch legitimierte Menschenbild, in dem der Mensch als SELBST verstanden wird. Im Lehrertraining wird durch Selbst-Konfrontation das Bewusstsein vom wahren SELBST prozesshaft zur bewussten Re-repräsentation entwickelt.

 Re-repräsentation des SELBST ist die Grundbedingung menschlicher Bildung.

 

MTDD: Inwieweit wirkt sich die Bewertung durch Dritte auf unser Selbstwertgefühl aus und was kann dagegen getan werden?

HK: Das Ausmaß der Bewertung durch Dritte auf unser Selbstwertgefühl ist davon abhängig, wie ausgeprägt unser Bewusstsein vom eigenen, wahren SELBST ist. Ist das Bewusstsein vom eigenen SELBST unterentwickelt, entsteht im inneren Kosmos ein virtuelles Vakuum. In diesem Vakuum herrschen dann dominante Bezugspersonen und autoritäre Systeme.

Was kann dagegen getan werden?

Sobald das Kind ICH sagt, kann es sich von sich selbst distanzieren und ist zur SELBST-Konfrontation fähig. Das bedeutet, es in entsprechenden Situationen mit sich selbst zu konfrontieren und seine Freiheit zur eigenen Entscheidung zu fördern, in Verantwortung vor seinem SELBST und vor seinen Mitmenschen.

 

Die anthropologische Begründung der Entscheidungsfreiheit liegt in der Ur-Konstitution des Menschen. Jeder Mensch ist mit der Option ausgestattet, vor einer Reaktion inne halten zu können. Der Begründer der Logotherapie, Victor E. Frankl, hat erkannt:

“Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.

Diese Option zum Innehalten ist die Grundbedingung der SELBST-Regulation. SELBST-Regulation gelingt, sobald der Mensch für sich selbst einen autonomen Wertmaßstab entwickelt hat. Dann ist er unabhängig von der Bewertung durch Dritte.

 

MTDD: Wie werden Leser, die am Kauf Deiner Publikationen interessiert sind, dies tun?

HK: Meine Bücher können in jeder Buchhandlung vor Ort gekauft bzw. auch über Internet-Buchhandlungen bestellt werden.

Meine Essays, wie z. B. “Der Evolutionsgeist transformiert das Bildungs-Bewusstsein„, kann übers Internet kostenlos herunter geladen werden.

 

MTDD: Horst, Deine Publikationen sind zahlreich und die zu behandelnden Themen ebenso interessant wie tiefgründig. Dieses spannende Gespräch über die Welt des Lehrens und Lernens können wir in unserem nächsten Interview fortsetzen.

Nochmals vielen Dank für die Teilnahme. Es war mir eine Ehre, Dich als meinen Gast zu haben.

HK: Maria Teresa, vielen Dank für Deine Einladung zu diesem Interview.